2020-8-8
The project below extends only to about 20 pages. I don't know if I'll ever get back to it, but if you can do something with this, take it and run with it.
In the second half of the nineteenth century and the first half of the twentieth, an enormous quantity of biblical scholarship was produced, allowing students of the Bible to access the basic results of modern scholarship in a level of detail previously impossible. While the coming of the internet has greatly increased the availability of all sorts of information, and has even resulted in many of these older works of scholarship becoming available in PDF form, many remain (as of 2020) unavailable in HTML form. It seems like a good idea to make them available that way, and this volume is one small effort in that direction.
The below is taken from the facsimile on archive.org of Hermann Freiherr von Soden's Die Schriften des Neuen Testaments in ihrer ältesten erreichbaren Textgestalt.
The text below is not necessarily beautiful, but is intended to be a faithful reproduction, in HTML form, of von Soden's work. Because it does not contain any of my own original work, I think under US law I would have no claim to copyright over this edition, but in case I do have any such claim, I waive it under the CC0 1.0 Creative Commons license.
Where the occasion seems to demand it, I have added a note of my own. These notes are always formatted in brackets [] and signed "-- MP (2021)" (or whatever the current year is). Hopefully this will be enough from keeping any explanations or pointers I add to the text from being attributed to Driver.
If someone were to take this text and re-arrange it in a more visually appealing way, I think that would be just peachy.
[First Inside Page]
[Four Blank Pages]
[Title Page]
DIE SCRIFTEN
DES
NEUEN TESTAMENTS
IN IHRER
ÄLTESTEN ERREICHBAREN TESTGESTALT
HERGESTELLT
AUF GRUND IHRER TEXTGESCHICHTE
VON
DR. THEOL. HERMANN FREIHERR VON SODEN
BAND I, 1. ABTEILUNG.
BERLIN * VERLAG VON ALEXANDER DUNCKER * 1902
Die zweite Abteilung wird Ende 1902, der II. Band 1903 erscheinen.
Einzelne Teile werden nicht abgegeben.
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[page x -- Introduction ]
[Title Page Again?]
DIE SCRIFTEN
DES
NEUEN TESTAMENTS
IN IHRER
ÄLTESTEN ERREICHBAREN TESTGESTALT
HERGESTELLT
AUF GRUND IHRER TEXTGESCHICHTE
VON
DR. THEOL. HERMANN FREIHERR VON SODEN
BAND I
BERLIN
VERLAG VON ALEXANDER DUNCKER
1902
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DRUCK VON W. DRUGULIN IN LEIPZIG.
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FRÄULEIN ELISE KOENIGS
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Verehrte Freundin!
Nun kann ich Ihnen den ersten Halbband des Werkes, das die Wissenschaft Ihnen verdankt, vorlegen. Mit nie ermüdendem Interesse, mit feinem Verständnis für die Bedeutung des Kleinen, mit unbegrenzter Opferfreudigkeit haben Sie seit sieben Jahren das langwierige und kostspielige Unternehmen getragen, das ohne solche Hilfe niemals ausführbar gewesen wäre. Was will demgegenüber mein persönlicher Dank bedeuten für das Stück Lebensarbeit, das zu leisten Sie mir ermöglicht haben. Möchten vielmehr die Früchte, die die Sonne Ihrer Gunst auf einem bei vielen als steril verschrieenen Feld gezeitigt hat, so reif und wertvoll sein, dass Ihnen alle die ihren Dank darbringen, denen gleich Ihnen an dem gesicherten Besitz des ursprünglichen Wortlauts der geheiligten Ururkunden unseres Glaubens gelegen ist.
Zwar wird der nun ausgehende Teil meiner Untersuchungen da und dort Enttäuschung bereiten. Von so vielerlei ist in ihm die Rede, nur nicht von der Textgestalt. Aber Sie haben es mir gern gestattet, was mir unerlässlich schien: ganze Arbeit zu machen, so- weit es in meinen Kräften lag und bei einer ersten Bewältigung des umfangreichen Materials billiger Weise zu fordern ist. Es galt die Vermeidung des methodischen Fehlers in der bisherigen Arbeits- weise, allzurasch und ohne genügende Orientierung in der Welt der Zeugen auf den Text selbst loszugehen und nur auf ihn das Auge zu heften. Eine. möglichst peinliche, detaillierte, vielfächerige, mit klaren Etiketten arbeitende Inventur des zur Zeit uns zugänglichen Urkundenbestandes schien mir als Vorarbeit unerlässlich. Und diese Inventur war so aufzustellen, dass sie zugleich eine Kontrole darüber bot,-ob auch alles geprüft, nichts Wesentliches übersehen und jeder Urkunde der Platz angewiesen sei, an den sie gehört. Nicht das nötige Material zur Rekonstruktion des Urtextes glaubte ich nur
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sammeln oder wenigstens hier nur darbieten zu dürfen, sondern alles, was zur Aufhellung des Verlaufs der Textgeschichte, ja der wechselnden Geschicke der neutestamentlichen Schriften bis zum Aufkommen des Buchdrucks dienen konnte, war zu notieren und zu veröffentlichen. Selbst mit solchen Notizen glaubte ich nicht zurückhalten zu dürfen, die nur die Bedeutung von Bojen für spätere Forschungsfahrten haben.
Auf Grund der gewonnenen Erkennungszeichen und Kadres kann nun der zweite Halbband, der bald folgen soll, ausschliesslich und auf bescheidenerem Raum Wortlaut und Charakter, Ursprung, Verbreitung und Abwandlungen der verschiedenen, mit der Wende des 3. und 4. Jahrhunderts abgeschlossenen und die weitere Ent- wicklung von da an bestimmenden Recensionen feststellen, um dann der Hauptaufgabe sich zuzuwenden, mittelst dieser Recensionen und der von ihnen nicht übertünchten Denkmäler aus der Autochthonenzeit, wozu freilich die ragenden Säulen, auf die man bisher alles gründete, nicht gehören, dem gesuchten Urtext immer sicherer bis ins Einzelne auf die Spur zu kommen.
Ich darf aber mit diesem ersten Teil meiner Ergebnisse nicht vor die Öffentlichkeit treten, ohne schon jetzt die Schar der Mitarbeiter ihr vorzustellen, deren treue Mithilfe allein dieses Werk möglich gemacht hat. Die Abgelegenheit des Forschungsgebiets brachte es mit sich, ob auch darin eine bedeutende Erschwerung lag, dass die meisten der gewonnenen Kräfte nur eine begrenzte Zeit sich einer solchen Spezialaufgabe widmen konnten. An den Reisen haben sich nacheinander beteiligt die Herren Lic. Paul Glaue (Paris, Italien, Athen, Kairo, Jerusalem, Sinai), Lic. Knopf (Jerusalem, Sinai, griechische Inseln), Lic. Frhr. von der Goltz und Lic. Wobber- min (Italien, Griechenland, Athos, Konstantinopel, griechische Inseln), A.Pott (England), R. Wagner (Russland), A. Schmidtke (Paris, Spanien, Italien, England, Albanien, Griechenland, Athos, europäische Türkei), W. Felmy (England, Italien, Belgien, Österreich), Hans Frhr. von Soden (Italien, England), Lic. Violet (Damaskus), Dr. £. B. Kouyeas, ein grie- chischer Gelehrter (Griechenland, Athos). Mit kleineren Arbeiten auf auswärtigen Bibliotheken wurden gelegentlich beauftragt die Herren Lic. Eberhardt, Lic. Lietzmann, Lic. Teichmann, Dr. Schäfer, Meichssner, Kerner. An der Verarbeitung des Materials haben sich ausser einer
[Page VII -- Vorwort.]
Anzahl der Genannten noch beteiligt die Herren Dr. Messerschmidt Lic. Schneemelcher, Cand. Haffa, Rettig, Gebhard, Münch, Frädrich. Beiträge danke ich ferner Herrn Professor Preuschen-Darmstadt, den deutschen Auslandsgeistlichen Lessing-Florenz, Haupt-Venedig, Pochhammer-Messina, Veit-Manchester, Wedemann und Keller-Kairo, ferner für Russland den Herren Professor Paul Seeberg und Dr. K. Grass, für Amorgos dem dortigen Scholarchen, für Kephalinia dem Diakon Kosmas von Hagiu-Paulu-Athos., Für gelegentliche Auskunft bin ich verpflichtet den Herren Professoren Benton-Albion, D. Bornemann, damals in Basel, Ehrhardt-Paris, D. Lösche-Wien, Dr. Ficker-Halle, W. C. Braithwaite-Banbury, Gymnasialdirektor Köhler-Wolfenbüttel, A. Papadopulos-Kerameus, Dr. von Premerstein-Wien, Lic. Stephan-Zittau, in besonderem Masse aber den Herren Bibliotheks-Direktoren P. Ehrle am Vatikan, von Gebhardt in Leipzig, Professor Lambros in Athen, der seine einzigartige Vertrautheit mit den Bibliotheken des griechischen Sprachgebiets mit grösster Liebenswürdigkeit in den Dienst dieses Unternehmens stellte, Martini in Neapel, H. Omont in Paris. Nicht minder aber gebührt unser aller Dank den Bibliotheks-Besitzern und -Verwaltungen insgesamt, die mit grösster Zuvorkommenheit, im Orient zugleich mit orientalischer Gastfreundschaft die Forscher aufgenommen und ihnen ihre Schätze erschlossen haben. Es ist doch etwas um eine Kulturwelt und um das in ihr trotz aller gelegentlichen nationalen Spannungen lebendige Gefühl, dass die ihr zugehörigen Völker Glieder einer Familie sind. Insbesondere aber habe ich unseren hohen und höchsten Behörden, dem Herrn Kultusminister, dem Herrn Reichskanzler und ihren Räten, nicht zuletzt den stets hilfsbereiten Vertretern des deutschen Reiches im Auslande für die wirksame Förderung zu danken, die sie diesem Unternehmen im allerreichsten Masse angedeihen liessen. Am meisten verdankt das Unternehmen der mehr als fünfjährigen unermüdlichen, stets opferbereiten Mitarbeit des ebenso durch peinlichste Gewissenhaftigkeit als durch Scharfsinn und Spürsinn ausgezeichneten Herrn A. Schmidtke, der auf das geistige Eigentum mancher hier verwerteter Entdeckungen in dem Labyrinth der Textgeschichte Anspruch hat.
Dank ermutigt allzeit auch zur Bitte. Möchten diesem Werk nach seinem Erscheinen ebenso viel Mitarbeiter erstehen, wie es sie
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in der Zeit des Werdens gefunden hat. Möchten die Forscher auf diesem Gebiet und die Hüter der handschriftlichen Schätze ihm die mannigfaltigen Berichtigungen und Ergänzungen zu Teil werden lassen, deren es noch über die schon jetzt angesammelten und hierunter zusammengestellten hinaus sicher bedarf. Möchte dieser Versuch, denn mehr kann er nicht sein, Mut machen und Anregung geben zu neuem, wenn möglich in gegenseitige Fühlung tretendem, ja am besten nach einem einheitlichen Plan organisiertem Schaffen auf dem nunmehr besser erleuchteten Gebiet der Geschichte der neutestamentlichen Schriften. Möchte zum Beispiel bald die Herausgabe der grundlegenden Kommentare, eines unverantwortlich vernachlässigten Hilfsmittels für unsere exegetische Arbeit, in einer den wissenschaftlichen Anforderungen genügenden Weise in Angriff genommen werden. Ihre nachgewiesene Verwandtschaft wird es ermöglichen eine ganze Reihe derselben an einem einzigen, der zu Grunde gelegt wird, zur Darstellung zu bringen. Möchte es gelingen, nachzuweisen, welche Recensionen von den einzelnen Kirchenvätern benützt, welche bei den alten Übersetzungen zu Grunde gelegt worden sind. Möchte vor allem der Entwicklung des kirchlichen Lektionswesens nunmehr die Forschung sich systematisch zuwenden. Abgesehen von dem ihm eigenen Interesse wird von dort noch manches Licht auf die eigentümlichen Wandlungen fallen, welche die alten Recensionen in den verschiedenen Provinzen sich gefallen lassen mussten. Möchte unsere Kirchengeschichte bald bereichert werden durch ein lebendiges Bild von dem wechselnden Mass centraler Stellung des NT’s in ihren verschiedenen Epochen.
Ich bin gewiss, auch Ihnen, verehrte Freundin ernster theologischer Forschung, wird solch neuerwachtes Leben auf dem Gebiet, dessen Urkunden Sie uns zugänglich gemacht haben, der liebste Dank sein. Möchte es diesem Werke gelingen, ihn wachzurufen!
Ihr
dankbarer
von Soden.
Berlin, am 30. Oktober 1902.
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#Ergänzungen und Verbesserungen
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#Die bisherige Arbeit. Das neue Unternehmen.
##1. Anfänge der neutestamentlichen Textkritik
1. Anfänge der neutestamentlichen Textkritik¹). Das letzte Ziel der Beschäftigung mit den mannigfaltigen überlieferten Textformen der neut. Schriften ist die Wiedergewinnung des Textes, den einst die Verfasser dieser Schriften ihren Lesern vorlegten. Seit mehr denn zwei Jahrhunderten ist eine Fülle mühseligster Kleinarbeit geleistet worden, diesem Ziele näher zu kommen. Bis dahin hatte man den Text so hingenommen, wie man ihn überkommen hatte. Wie die letzten Jahrhunderte des Mittelalters, so beunruhigte die ersten Jahrhunderte der auf diesem Gebiet, soweit überhaupt von einem Einschnitt zu reden ist, mit der Verwertung der Buchdruckerkunst beginnenden Neuzeit die Frage nicht, ob der Text, den sie früher durch Abschrift, jetzt durch Drucksatz dem Leser darboten, der ursprüngliche Text der heiligen Schriften sei. Genug, dass er der im Beobachtungskreis verbreitete war. Das eine grosse Interesse, nach der Einführung des Buchdrucks die heiligen Schriften nunmehr gedruckt darzubieten, verdrängte die Sorgen um den Wortlaut des zum Druck gelangenden Textes. Dennoch änderte die neue Produktionsweise die Geschicke des Textes. Der Buchdruck bewirkte, dass an die Stelle der stets sich neu gebärenden Manmnigfaltigkeit der Texte allmählich eine feste Grösse trat. Nicht mehr war jedes neue Exemplar in der Lage, durch irgendwelche Mischung der Textformen mehrerer Vorlagen eine neue Textausgabe darzustellen. Vielmehr boten von nun an die gesamten Exemplare einer Drucklegung einen uniformen Text. Neue Ausgaben erschienen aber
[Footnotes]
¹) Die Geschichte der neut. Textkritik mit mehr oder weniger vollständiger Bibliographie ist so oft skizziert worden, dass eine neue Darstellung überflüssig erscheint. Am besten bei Holtzmann, Einleitung in das Neue Testament³ 1892, Jülicher, Einleitung in das N. T.³ 1901, Gregory, Prolegomena zu Tischendorfs editio octava, III 1894. Die gedruckten Ausgaben des N. T. registriert möglichst vollständig E. Reuss, Bibliotheca Novi Testamenti graeci 1872. In der folgenden nur die Knotenpunkte der Entwicklung markierenden Übersicht geben die eingeklammerten Zahlen hinter den Namen die Jahre an, in welchen der betreffende Forscher seine Ergebnisse der Öffentlichkeit darbot.
v. Soden, Die Schriften des Neuen Testaments. I. -- I
[Page 2 -- Die bisherige Arbeit.]
um der damit verbundenen Umstände willen nur selten. Um so häufiger wurden die einmal vorhandenen neu aufgelegt. Der Kardinal Ximenes (Complutensische Polyglotte 1521) und der Humanist Erasmus (1516), denen wir die beiden editiones principes verdanken, liessen den Text drucken, wie er ihnen eben zur Hand war. Etwas überlegter wählten ihren Haupttext Stephanus (I 546ff) und Beza (1565 ff), die beide schon dem Text Varianten beifügten. Trotzdem gewöhnte man sich ziemlich rasch und ohne Widerspruch und Bedenken an das Durchschnittsbild dieser wenig unter sich differierenden Drucktexte. Als dann die geschäftsgewandten Epigonen eines Stephanus, die Elzeviere, von 1624 an den Markt versorgten, durften sie die Buchhändlerreklame wagen: Textum ergo habes nunc ab omnibus receptum, in quo nihil immutatum aut corruptum. Und das in, der Dogmenproduktion allzeit so fruchtbare Ruhebedürfnis machte aus der Reklame ein Dogma. Unvermerkt setzte sich die schon lange umgehende Fiction von einem textus receptus, einem allgemein anerkannten Text fest. Das Dogma wurde aber zugleich wie so oft zu einem Epitaphium. Unter ihm schlummerten ungestört die nunmehr in ihren Bibliotheken eingesargten Handschriften des Neuen Testaments.
Doch nicht lange erfreute sich der textus receptus seines Sieges unangefochten. Die erste Unruhe bereitete eine 1657 in London erscheinende Polyglotte, welche dem neu aufgelegten Text der sogenannten Regia des Stephanus vom Jahre 1550 eine Anzahl Varianten aus den drei damals bekannten Unzialhandschriften, dem Alexandrinus, Cantabrigiensis und Claromontanus, sowie aus einigen Minuskelcodices hinzufügte. Das war das Signal zum Sammeln von Varianten. Doch betrachtete man sie mehr als Kuriositäten. Jedenfalls wagte man nicht sie gegen den textus receptus auszuspielen. Der fleissigsten Variantensammler einer, John Mill, brachte es in seiner Ausgabe von 1707 schon bis auf 30000 handschriftlich belegte Abweichungen vom Text der Regia. Vergeblich suchte diesen Eifer, der mit einer förmlichen Überschwemmung drohte, der grosse philologische Meister Bentley (1716) zu bannen, indem er die Forderung aufstellte, man habe einfach denjenigen Text zu bieten, der aus den ältesten Urkunden unter Konkurrenz des lateinischen Textes des 4. Jahrhunderts sich ergebe. Der geifernde Ärger der Ruhebedürftigen schreckte ihn nach einem Probeversuch, zu dem er Apc 22 gewählt hatte, von der Ausführung dieses Programms ab. Auch der nicht weniger wegen seiner Bemühungen um einen kritisch
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gesicherten Text verketzerte, nach Holland ausgewanderte Baseler Wettstein (1751) brachte es im Grund nicht über den Sammler hinaus. Nur dass er, kühner als seine Vorgänger, die gesammelten Varianten per majora den textus receptus korrigieren liess. Als Sammler rubrizierte Wettstein die Codices nach dem bis zur Gegenwart allgemein acceptierten System. Zur Bezeichnung der Majuskeln verwendete er die grossen Buchstaben des lateinischen Alphabets, zu der der Minuskeln die arabischen Zahlen. Dies Siglensystem aber führte er für jeden der vier Teile des NT’s, Evv, AK, Pl; Ap, unabhängig von einander durch. Von nun an hiess der Alexandrinus A, der Vaticanus B, der Pariser. Palimpsest mit dem übergeschriebenen Ephraemtext C, der Cantabrigiensis (Ev Ac) D, der Claromontanus (Pl) ebenfalls D.
Inzwischen hatte den grossen schwäbischen Bibeltheologen J. A. Bengel (1734) nicht nur sein strenges Gewissen an dem schon lange brüchig gewordenen Dogma vom textus receptus irre gemacht, sondern sein feines Empfinden lehnte sich ebenso gegen das allzu summarische Majoritätsverfahren auf. Und sein demütiger Mut, die Thatsachen zu respektieren, statt sie zu meistern, belohnte ihn mit einer Beobachtung, die der textkritischen Forschung den Ausweg aus den Herbarien der Variantensammler in das freie Feld des lebendigen Werdens eröffnete. Er unterschied nicht nur, wie Bentley, zwischen älteren und jüngeren Textformen, von denen die letzteren im textus receptus aufgelebt waren, sondern diese gruppierten sich ihm in Familien. Als die Heimat der älteren ehrwürdigeren stellte er Afrika fest, während er für die jüngere asiatischen Ursprung vermutete. Das war der Weg, Bewegung und Ordnung in die rudis indigestaque moles der Varianten zu bringen. Der geschichtliche Sinn war erschlossen.
Der Anstoss, den Bengel mit diesem Gedanken gegeben, wirkte in der Hauptlinie der weiteren Forschung fort. Wo er fehlt, da gerät sie in totes Wasser. Zuerst war es Semler (1765), der Bengel’s Idee in seiner Weise aufnahm. Wenn diesem die verschiedenen Texttypen sich als Familien, Völker darstellten, so erschienen sie dem etwas trockeneren Buchgelehrten als Rezensionen. Nicht das Resultat einer natürlichen Entwicklung sah er darin, sondern bewusste, mehr oder weniger gelehrte Arbeit. Für die späteste dieser Rezensionen, die orientalische, die sachlich sich deckte mit Bengel’s asiatischer Familie, und deren letzten Niederschlag auch er im textus receptus erkannte, vermutete er, einer gelegentlichen Bemerkung des
1*
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Hieronymus folgend, zum ersten Mal Lucian als Autor. Die afrikanische Familie Bengel’s zerlegte sich ihm in zwei Rezensionen, die occidentalische und die alexandrinische. Für diese beiden wagte er bestimmte Namen noch nicht zu nennen.
Im Anschluss an diesen Aufriss der beiden so verschiedenartigen Bahnbrecher legte nun um die Wende des Jahrhunderts Griesbach (1796— 1806) den Grund für die Arbeit des 19. Jahrhunderts, indem ersich an die Gruppierung und Würdigung der Varianten nach jenen Gesichtspunkten machte. Obenan stellte er die von Semler aus der afrikanischen Familie Bengel’s ausgelöste occidentalische Rezension. Ihr. Kronzeuge ist ihm der von der Londoner Polyglotte schon gelegentlich herbeigezogene, von Harwood (1776) zum ersten Mal ins Feld geführte Codex D, sekundiert von der Itala. In dieser occidentalischen Rezension sieht er den Text erhalten, wie er vor der Kanonsammlung gestaltet war. Durch grammatische und stilistische Korrekturen erstand aus ihr die alexandrinische Rezension, repräsentiert durch Origenes, mehr oder weniger rein erhalten in den Codd B, C, L. Da sie das Original für die koptische, äthiopische und die spätere syrische Übersetzung abgab, sind auch diese als mittelbare Zeugen für sie zu verwerten. Durch Mischung der occidentalischen und alexandrinischen kam als letzte die byzantinische Rezension zu Stande, die bei ihm Semlers orientalische Rezension oder Bengel’s asiatische Familie vertritt. Von ihr existiert eine frühere in s. IV und eine spätere in s. V—VI zu verlegende Ausgabe. Irrtümer in Einzelheiten, wie die Bezeichnung des occidentalischen Textes als Rezension oder die unrichtige Einstellung einzelner Codd unter die Zeugen einer der drei Rezensionen können das Verdienst des grossen Gelehrten nicht mindern, das er sich durch den Versuch, die Ideen Bengel’s und Semler’s am Objekt selbst durchzuführen, erworben hat.
Mit leisen Modifikationen hat der katholische Forscher Hug (1808) dasselbe System der Gruppierung befolgt. Der durch BCL, für den Apostolos auch durch A repräsentierten Rezension gab er, den schon von Semler verwerteten Bemerkungen des Hieronymus weiter folgend, den Namen des Hesychius, wie der „syrisch-constantinopolitanischen“, für die er für Evv E, F ,G als Zeugen in Anspruch nahm, mit Semler den des Lucian. Für die älteste Form, die bis zur Mitte von s. III geherrscht habe, gab er die Taxierung als Rezension auf. Er charakterisierte sie vielmehr als κοινὴ ἔκδοσις und dachte sie sich in verschiedene Abarten verwildert. Dagegen löste
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er von der Rezension des Hesychius, mindestens für die Evv, eine Textbearbeitung des Origenes los als ein Zwischenstadium zwischen jener κοινὲ ἔκδοσις und ihrer Rezensierung durch Hesychius.
Ohne es an einer Textausgabe zu erproben, konstruierte Eichhorn (1804—1827) vor den beiden Rezensionen des Lucian und des Hesychius zwei unrezensierte Texte, einen in Asien herrschenden, der in der Peschito, einen in Afrika heimischen, der in der Itala fortlebte, sowie nach den beiden Rezensionen eine Vermischung aus beiden.
Unter den vielen, welche diese Konstruktionen verwarfen, ist der bedeutendste Matthaei (1803— 1807), der Griesbach’s als Tertiärgebilde eingeschätzte byzantinische Rezension für den Urtext erklärte, weil er ihn in der grossen Mehrzahl der von ihm mit Sorgfalt kollationierten, meist dem Athos entstammenden Codd vertreten fand. Was von diesem Text abwich, das war Willkür eines Origines oder Chrysostomus, für die der Kirchenvater von dem Kritiker nicht gerade respektvoll zurechtgesetzt wurde. Hat auch Matthaei in dieser Bevorzugung des „byzantinischen“ Textes fehlgegriffen, seiner sauberen und nüchternen Arbeit gelang es schon damals, diese jedenfalls durch ihre Verbreitung geschichtlich hoch bedeutsame Textgestalt in fast völlig zutreffender Form zu rekonstruieren. Hätte man seine Arbeit nach dieser Seite hin zu würdigen verstanden, so hätte sein Text für alles weitere sondierende Vordringen zu anderen sei es nun Typen oder Familien oder Rezensionen einen brauchbaren festen Ausgangspunkt bilden können. Auch Rinck (1830), der übrigens im occidentalischen Text eine afrikanische und eine lateinische Gruppe unterschied, bestritt den Vorzug der occidentalischen oder der alexandrinischen Textgestalt vor der sog. orientalischen. Und noch Scholz (1830— 1836) vertrat gleich Matthaei, wie er dazu verleitet durch eine Fülle von Kollationen, die er, nur leider im Gegensatz zu Matthaei allzu flüchtig, auf vielen Reisen gesammelt hatte, entschieden den byzantinischen Text als ursprünglich gegenüber dem alexandrinischen, in welchem ihm der occidentalische und der alexandrinische der bisherigen Forscher zusammengeflossen war. —
Der Hauptfehler bei all diesen von Bengel's Anregung ausgehenden Aufstellungen war, dass es für die konstruierten Typen, den byzantinischen ausgenommen, an ausreichendem Belegmaterial mangelte. Infolgedessen nahm man die zufällig vorhandenen Zeugen mit allen ihren Lesarten kurzerhand für die Rezension, die man in ihnen vertreten fand, in Anspruch. Ebenso konnte man nicht den Versuch machen, die behaupteten Typen durch den ganzen Text
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durch zu rekonstruieren. Die über das verhältnismässig reichste Material verfügten, Matthaei und Scholz waren im Grunde wieder in die Manier der Variantensammler vergangener Zeiten verfallen. Sie begnügten sich, den Text der Majorität herauszugeben, statt zu versuchen, die gefundenen Varianten zur Gewinnung festerer Umrisse der verschiedenen, mehr oder weniger nur postulierten Typen zu verwerten. Hieran aber endlich war das πρῶτον ψεῦδος bei all diesen Konstruktionen Schuld, dass man allzu rasch einen der gefundenen oder vermuteten Typen mit dem Urtext identifizierte und infolge dessen die anderen als quantit@ negligeable bei Seite liess. Man vermochte sich die letzte Entscheidung zwischen den Typen immer nur als ein Entweder-Oder vorzustellen.
##2. Die Texte des letzten Halbjahrhunderts
2. Die Texte des letzten Halbjahrhunderts. So war es kein Wunder, dass man, nachdem man sich gerade ein Jahrhundert lang in diesen Spuren bewegt hatte, ohne zu einem irgend gesicherten Ergebnis zu gelangen, dieser Arbeitsweise müde ward, ob man es auch kaum Wort haben wollte. Es war Karl Lachmann (1831), der angeregt durch Schleiermacher seine philologische Meisterschaft in den Dienst des textkritischen Problems stellte, um dessen Lösung die Theologen sich, wie es schien, aussichtslos abgemüht hatten. Auch er warf zunächst den byzantinischen Text als wertlos über Bord. Aber auch unter den zurückbleibenden Typen räumte er auf. Er erkennt nur den occidentalischen durch die beiden D, Itala und lateinische Väter, und den orientalischen durch Origenes und ABC repräsentierten Typ an. Sodann aber fordert er von der text- kritischen Arbeit, dass sie sich bescheiden solle bei dem Ziel, den- jenigen Text festzustellen, welchem man zur Zeit des Hieronymus den Vorzug gab. Und dies zu erreichen, glaubte er sich auf die ältesten Zeugen, die älteren Majuskeln, beschränken zu dürfen. Matthaei und Scholz hatten, so schien es, zwecklos gesammelt.
Doch auch Lachmann selbst ward rasch verdrängt. Nicht nur, weil er die Ausführung sich doch allzu leicht gemacht hatte. Auch die resignierte Bescheidung in seiner Umgrenzung der erfüll- baren Aufgabe war für die Männer unerträglich, die nun gleich- zeitig, aber unabhängig von einander unter Einsatz ihres ganzen Lebens mit eisernem Fleiss und peinlichster Gewissenhaftigkeit in die Arbeit traten. Es waren Tregelles (1857— 1885) und Tischen- dorf (1841— 1874). Sie suchten nach dem Urtext, nur dass Tischendorf unter Lachmann’s zügelndem Einfluss, wenigstens in der Theorie, nur den Text um das Jahr 200 zu erreichen erstrebte,
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freilich ohne zu fragen, ob man für diese Zeit von einem in irgendwelchem Masse rezipierten Text überhaupt reden könne. So wenig aber Lachmann’s Ruf zur Beschränkung in Bezug auf das Ziel, so bedeutsam wirkte sein Ruf zur Beschränkung in Bezug auf die Mittel nach. Und als durch Tischendorf’s glückliche Ausgrabung einer alten, von ihren Besitzern, den Sinaimönchen, verachteten Unzialhandschrift der sogenannte Sinaiticus als gleichberechtigter Zeuge neben den Vaticanus getreten, und der Vaticanus selbst durch den Vatican endlich der vollen Verwertung zugänglich gemacht war, stand die Arbeit wie im Bann dieser ehrwürdigen Patriarchen unter den Handschriften. Vor dem neuen glänzenden Erwerb verlor der Väter bescheidener Besitz, die Minuskeln, fast alles Ansehen. Selbst der Codex Bezae musste sich eine äusserst stiefmütterliche Behandlung gefallen lassen. Wettstein’s „Königin unter den Minuskeln“ (Paris Nat. gr. 14) sank zum Schleppträger der neuen Monarchen herab. Ihre Verehrung wuchs zum Aberglauben aus. Ohne viel Bedenken war man geneigt, in einem aus א (von Tischendorf eingeführtes, für dessen Schätzung seines Fundes charakteristisches Siglum für den Sinaiticus) und B erhobenen Text kurzerhand den ersehnten Urtext zu sehen. Das Problem war immens vereinfacht. Es handelte sich in der Hauptsache nur darum, Gesichtspunkte zu finden, nach denen da zu entscheiden sei, wo א und B auseinander gingen. Beide, Tregelles und Tischendorf, räumen darum auch mit dem Begriff von Rezensionen auf. Ihre Existenz, so sagten sie, sei durch die Forschung nicht bestätigt, obgleich sich bis dahin die Forschung mit ihnen noch gar nicht eingehend beschäftigt hatte. Sie begnügen sich, wie einst Bentley, mit der Konstatierung älterer und jüngerer Textformen. Sie geben auch zu, dass man zwischen abendländischen, alexandrinischen und byzantinischen Handschriften unterscheiden könne. Aber es steht für sie fest, dass nur die alexandrinischen und in ganz seltenen Ausnahmefällen die abendländischen zur Rekonstruktion des Urtextes in Betracht kommen können. Tregelles hat, zumal vor der Entdeckung des Sinaiticus, sich noch bemüht um einen Nachweis für die Berechtigung dieses neuen Dogmas. Denn dazu wurde es nun. Er erwies durch Stichproben, dass die Zitate der älteren Väter und die Textvorlagen der älteren Versionen mit den Lesarten von אBAC übereinstimmten, ohne zu leugnen, dass dies doch keineswegs ohne Ausnahme gelte. Aber diese Ausnahmen konnten seine These nicht erschüttern. Mögen hier und da noch spätere Codd alten guten
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Text bewahrt haben — so hat er in seinen Apparat neben den Unzialen für das NT die Min. Paris Nat. 14 und Leicester 20, für Evv Basel Univ. AN IV 2, für Acta London Brit. Mus. Add. 20003, für Pls Oxford Bodl. Roe 16 aufgenommen —, mögen die jüngeren Maj. und die Min. für die spätere Geschichte des Textes interessant sein, für die Herstellung des Urtextes sind ausschiesslich die vier genannten alten Majuskel-Codd und etwa noch D massgebend. Für die Entscheidung von Fall zu Fall, wo diese Codd differieren, hat er sich, im Anschluss an frühere ähnliche Regulative zur Entscheidung über Varianten, einige Regeln formuliert. Darnach verdient unter verschiedenen Lesarten den Vorzug 1. die durch Väter oder Ver-sionen unterstützte, 2. die kürzere, 3. die von den etwaigen Parallelstellen abweichende, 4. die schwierigere, 5. diejenige Lesart, von der die abweichenden am einfachsten ihren Ausgang genommen haben können. Auch Tischendorf verfährt nach demselben Rezept. Nur, wo es ganz unausweichlich ist, giebt er Lesarten Raum, die durch א und B nicht vertreten sind. So stellten beide, weil derselben Methode folgend, einen in der Hauptsache übereinstimmenden Text her, den Text, der den Schreibern von B und א vorlag, einen Text, der jedenfalls, auch wenn die Codd selbst erst dem s. V entstammen sollten, schon in s. IV, vielleicht schon in s. III irgendwo der bevorzugte war. Nur dass nicht ein Schimmer von Beweis dafür erbracht war, dass dieser Text den Urtext darstelle. Und diesen Text statteten sie aus mit einem reichen Apparat von Varianten aus Codd, Vätern und Versionen. Nur dass dieser Apparat, soweit er über אBACD hinausgeht, wieder nichts anderes vorstellt als eine ungeordnete, unübersichtliche Variantensammlung, einen gelehrten Ballast.
Es ist nicht anders zu erwarten, auf diese Arbeitsweise musste eine Reaktion erfolgen. Die Basis war zu schmal, auch der Horizont zu klein geworden. Es ist das Verdienst von Westcott und Hort (1881), die Textkritik aus dem Engpass zwischen א und B wieder aufs freie Feld geführt zu haben. Genau besehen sind es alte Bekannte, die hier wieder auftreten. Aber sie haben das Nebelhafte, in dem sie den vor-Lachmannschen Textkritikern erschienen waren, abgestreift und haben mit den deutlicheren Umrissen auch festeren Boden unter den Füssen bekommen. Den früher als orientalisch oder byzantinisch bezeichneten Text nennen W.-H. den syrischen, weil sie ihn in den Homilien des Chrysostomus finden. Sie erkennen ihm den Charakter einer auf Deutlichkeit und Vollständigkeit aus-
[Page 9 -- 2. Die Texte des letzten Halbjahrh. Tregelle Tischendorf, Westcott-Hort. ]
gehenden Rezension zu und sind nicht abgeneigt, diese Rezension Lucian zuzuschreiben. Dieser syrische Text ist aber, auch hierin nehmen sie Griesbach wieder auf, in zweierlei Rezensionen verbreitet, die nacheinander, zeitlich möglichst weit getrennt, zwischen 250 und 350 entstanden sind. Obgleich dieser syrische Text allmählich alle anderen verdrängt hat, bildet er für W.-H. nur den ausserhalb ihrer Interessen liegenden terminus ad quem. Denn er ist, abgesehen von gelegentlichen freihändigen Emendationen, nur eine Kombination aus den älteren, „präsyrischen“ Texten, besitzt also keinerlei eigenen Zeugenwert, Wo die früheren Texte gegen ihn stehen, vertreten sie selbstredend den Urtext. Eine abweisende Beurteilung, für deren Berechtigung nur sehr summarische Begründungen beigebracht werden. . Der allein in Betracht kommenden präsyrischen Textformen zählen W.-H. drei auf. Die eine ist der uns bekannte „occidentalische“ Text, auch von ihnen noch „Western“ genannt, obgleich sie zugeben, dass er ebenso im Osten verbreitet gewesen ist. Es ist der Text der beiden mit D bezeichneten Codd und der ältesten lateinischen Übersetzungen. Auch für ihn verzichten sie auf eine Rekonstruktion und begnügen sich mit. einer im Wesentlichen dem Text von D°’ entnommenen Charakteristik desselben, ohne genau zu untersuchen, ob diese Handschrift ihn, in seiner Substanz natürlich, wirklich reinlich darstellt. („It is to the best of our belief, substantially a Western text of Cent. II, with occasional (!) readings probably due to Cent. IV.“ § 202). Er wird abgethan mit dem Verdict: a corruption of the apostolic texts. Als zweite Form nennen sie die „alexandrinische“, verstehen aber darunter etwas anderes als die früheren Textkritiker. Dieselbe ist in keinem Codex auch nur annähernd reinlich erhalten — für einen alexandrinischen Typus doch ein sehr bedenkliches Zeichen —, sondern zu erheben aus den sprachlichen Glättungen, die der sofort zu nennende dritte Typ in A und C, zuweilen schon in א, gelegentlich auch in B aufweist. Die Grundlage dieses alexandrinischen Textes ist der von W.-H. als „der neutrale Text“ bezeichnete Typus, wie er fast ungetrübt in B und א, in geglätteter Weise in A und C uns erhalten ist. Nur aus den Zeugen dieses neutralen d.h. von jeder fremdartigen Einwirkung freigebliebenen Textes ist der Urtext zu extrahieren. Der „alexandrinische“ kann dazu nichts beitragen; denn er ist ja nur eine Zustutzung dieses neutralen Textes. Nur der „Western“ kann dabei hin und her in Frage kommen; aber doch nur als unvereidigter Zeuge. Der Nachweis freilich, dass א und B diese Einschätzung
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verdienen (§ 233—239), ist nur für solche ausreichend, die daran glauben, und wird durch das Zugeständnis, dass der אB-Text nicht unbedeutende dem Urtext fremde Zusätze aufweise, die dem Western-Text fehlen, bedenklich erschüttert. So sehen wir auch die neuesten Textkritiker nach einer interessanten Rundfahrt in dasselbe Geleise einlenken, auf dem vor ihnen Tregelles und Tischendorf sich bewegten. Auch sie folgen B und א und treffen nach derselben Methode wie ihre Vorgänger da, wo diese Elitecodd auseinandergehen, von Fall zu Fall zwischen ihnen die Entscheidung. Der ganze Aufbau der verschiedenen Typen findet schliesslich nur dazu Verwertung, auf dieser Folie den Text von אB[AC] ins Licht eines „neutralen Textes“ zu rücken und mit Ausnahme weniger Stellen die ausschliessliche Benutzung dieser Codd zu rechtfertigen. Dennoch bleibt den im grossen Stil arbeitenden Forschern das Verdienst, wieder auf die Textgeschichte den Blick gelenkt, die in ihr auftauchenden Typen schärfer ins Auge gefasst und das Problem, ob wirklich der Text von אB der spezifisch authentische ist, mit vollem Ernst erwogen zu haben.
Wie viel aber, die Voraussetzung zugegeben, dass es sich ausschliesslich um den Text אB handeln könne, bei der dann allein zur Verfügung stehenden Methode dem subjektiven Ermessen anheimfiel, das verraten deutlich die zahlreichen, von jetzt ab von der neut. Forschung fast allein noch als erneuter Erwägung bedürftig erachteten Differenzen in dem von Tregelles, Tischendorf, Westcott-Hort herausdestillierten „Urtext“.
Nach dem allem ist der Verzweiflungsschritt erklärlich, den nun die Textkritik in ihrem letzten Bearbeiter, B. Weiss, gethan hat. Seine textkritische Methode bedeutet eine Bankerotterklärung des ganzen mit Bengel anhebenden und zuletzt von Westcott und Hort geleiteten Unternehmens. Mit der B. Weiss eigenen Gabe der Selbstbeschränkung, vermittelst deren er auf dem eingeengten und meist grundsätzlich isolierten Feld zum Meister wird, sieht er ab von Vätern, Versionen, Minuskeln, von jedem Versuch eine Textgeschichte zu skizzieren und die Zeugen zu gruppieren, sich bescheidend bei der elementaren Einsicht, dass es ältere und jüngere Codices giebt. Was „die jüngeren“ bieten, ist eo ipso falsch. „Die älteren“ aber sind daraufhin anzusehen, zu welchen Eigenheiten oder Fehlern sie besonders neigen, und darnach zu locieren. Er will „die in unsern wichtigsten Codd am häufigsten wiederkehrenden Kategorien von Textverderbnissen festzustellen suchen und den Wert
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der Codd für die Textkritik danach bestimmen, welche Art von Fehlern in ihnen die vorherrschende ist, und von welcher sie sich frei zeigen“ (Textrkritik der Evv S. 3). So erhalten denn die zufällig auf uns gekommenen ältesten Handschriften aus s. IV oder V unter peinlicher Aufrechnung ihrer „Fehler“ ihre Censuren, und durch die Korrektur ihrer Fehler hofft B. Weiss den Urtext, den Text des 1. Jahrhunderts, ins Reine zu stellen. Über diese doch mehr als anfechtbare Methode soll uns das Dekret beruhigen, für das ein Beweis nicht mehr nötig erachtet wird: „Weiter kann die Textkritik überhaupt nicht kommen“ (ib. S. 4). Schade, dass der auch hier wieder durch seinen minutiösen Fleiss Bewunderung fordernde Forscher, dem kein Mücklein entschlüpft, sich doch so weit dem überkommenen Betrieb angepasst hat, dass er den ganzen Schwarm der jüngeren Codd, sofern sie das Glück haben, in dem empfehlenden Rüstzeug der Majuskelschrift sich zu präsentieren, mit in seine Fehlerlisten aufnahm. Dadurch ist seine Arbeit in einem Masse unübersichtlich geworden, dass sie nicht einmal zur übersichtlichen Erkenntnis der Eigentümlichkeiten der alten Majuskeln leicht zu verwerten ist. Der einzige, aber auch der bleibend wertvolle Beitrag, den B. Weiss der Textkritik durch seine so überaus mühselige Arbeit geleistet hat, besteht in dem glücklichen Gedanken, die in Frage kommenden Varianten endlich einmal sachlich zu gruppieren und nach einheitlichen Gesichtspunkten zu behandeln, statt mit der alten Lokalmethode beziehungslos von Fall zu Fall über sie zu befinden. In welchem Masse aber bei seiner Methode trotz allen Scheins von Objektivität dem subjektiven Ermessen Thür und Thor offen blieb bedarf keiner Erläuterung. Auch Texten gegenüber ist es eben nicht so einfach, eine abweichende Position objektiv als Fehler festzustellen, so sicher auch das subjektive Urteil auftreten mag.
Man darf sagen, dass mit diesem Versuch die neut. Textkritik auf einem toten Punkt angelangt war. „Weiter kann die Textkritik überhaupt nicht kommen“ — ist dies wahr, dann war sie ein aussichtsloses Bemühen. Und das kopfschüttelnde Misstrauen und Mitleid, das dem neuen, in diesem Werk vor die Öffentlichkeit tretenden Unternehmen fast überall in den beteiligten Kreisen entgegen trat, war das natürliche Ergebnis dieser Entwicklung, zumal ihres letzten Erzeugnisses. Man hatte den Glauben an die Sache verloren. Das einzig Richtige schien, nun die Arbeit endlich ruhen zu lassen, sich zu begnügen mit Textausgaben, wie sie Weymann (1896) und Nestle (1898) bieten, in. denen die differierenden Ent-
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scheidungen von Tregelles, Tischendorf, Westcott-Hort, B. Weiss friedlich nebeneinander abgedruckt erscheinen, und dem Exegeten es zu überlassen, ob es ihm glücke, an der Stelle, mit der er sich eben beschäftigt, neue Gesichtspunkte zu Gunsten der einen oder anderen Lesart plausibel zu machen.
Da half aufs Neue den Theologen ein Philologe, diesmal durch einen ingeniösen, mit launiger Angriffslust ihnen dargebotenen Einfall. F. Blass (seit 1894) trat auf den Plan mit seiner Erzählung, dass durch einen wundersamen Zufall wenigstens von den Acten uns neben der Reinschrift die Kladde des Lukas erhalten blieb, oder dass, wie er eine Vermutung von Johannes Clericus ausgrabend es später milderte, Lukas eine zweimalige Ausgabe, und zwar, wie er wiederum ein Jahr später die These erweiterte, nicht nur bei den Acten, sondern auch bei seinem Evangelium veranstaltete. Die Verlagsorte waren Rom und Antiochia. Die ausgleichende Gerechtigkeit aber zwang dabei das hier klassisch illustrierte habent sua fata libelli in ihren Dienst. Es erhielten nämlich die Antiochener von dem Evangelium den ersten Entwurf, von den Acten die zweite verbesserte Auflage, die Römer umgekehrt von den Acten den verbesserungsbedürftigen Entwurf, von dem Evangelium die Arbeit letzter Hand. Wie dies zuging, weiss Blass mühelos begreiflich zu machen. Es begab sich also. Lukas schrieb sein Evangelium in Antiochien. Da drängte die Abreise, und ohne dass er die letzte Feile anlegen konnte, liess er es, wie es war, den drängenden Freunden. In Rom ging er noch einmal über den Text, manches beifügend, was er im Osten um der Juden willen ausgelassen hatte. So erhielten die Römer eine verbesserte und vermehrte Auflage. Nun schrieb er in Rom den zweiten Teil, die Acten. Diesmal war es die Ungeduld der Römer, die dem Mann, der das nonum prematur in annum wohl nicht kannte, das Manuskript in wenig druckfertigem Zustande entlockte. Habeant sibi! mochte er denken. Sie waren ja griechische Barbaren. Dem Theophilus aber durfte er es so nicht darbieten. Denn das war ein litterarischer Feinschmecker. Er überarbeitete es also noch einmal, wobei er, diesmal die Verbesserungsgrundsätze umkehrend, im Gegensatz zu der vermehrten zweiten, den Römern gewidmeten Auflage des Evangeliums, vor allem auf Kürzung ausging. Vielleicht damit die Römer in der Masse etwas mehr hatten? Und so kam es, dass diesmal Antiochia die bessere, freilich wieder die kürzere Ausgabe zufiel.
Der grosse Beifall, den Blass bei etlichen Sachkennern und un-
[Page 13 -- 2. Die Texte des letzten Halbjahrh. Blass, Bousset, Harnack. ]
gezählten anderen fand, als er sie so plötzlich in den Besitz von zwei echten Texten setzte und damit zugleich den Albdruck der Thatsache, dass die Überlieferung mit einem Schrifttexte in solchem Masse frei geschaltet haben könnte, von ihnen nahm, rief die Forschung wieder wach. Und trotz des Nestors „Bis hieher und nicht weiter“ übersprang sie die dekretierten Schranken. Die seit Lachmann nur noch als Schatten mitgehende Idee verschiedener Typen oder Ausgaben gewann wieder Blut. Der „occidentalische“ Text, der sich bisher immer in die Stelle des Geduldeten gedrängt sah, trat an der Hand von Friedrich Blass in den Vordergrund und forderte ernste Würdigung. Der Aberglaube an die konkurrenzlose Ursprünglichkeit des Textes אB war durch den über allen „Aberglauben“ der kritischen Theologen so ciceronianisch scherzenden Philologen aufs Tiefste erschüttert. Aber noch eine andere Forderung trat nun gebieterisch auf den Plan. Wäre die Textgeschichte nicht noch so ganz in Dunkel gehüllt gewesen, die Episode Blass wäre nie möglich georden. Wollte man für das allerdings frappanteste, von Blass allzu kurzerhand angefasste Textproblem, das der Acta, eine bessere Lösung finden, so durfte man es nicht wie Blass durch einen Scheinwerfer beleuchten, der ausser dem einen Punkt alles im Dunkel liess; sondern es galt, die verschiedenen Wandelbilder des Textes im Zusammenhang mit einander zu betrachten, sodass eins vom andern Licht erhielt. Es galt systematische Aufhellung der Textgeschichte. Nur dann war zu hoffen, dass man unbeirrt von Irrlichtern die Spuren noch verfolgen könne, die bis zum Urtext oder wenigstens in dessen irgend erreichbare Nähe führen. Für eine der Vorbedingungen dafür, die Auffindung von bestimmten Texttypen, solidere Analogien zu jener römischen Lukasausgabe von Blass, hat Bousset eine wertvolle Vorarbeit geleistet in seinen scharfsinnigen „textkritischen Studien zum Neuen Testament“ (T. u. U. XI, 4), die das Doppelte zeigte, erstens, dass auf diesem Weg ganz sicher etwas zu erreichen, sodann aber, dass ohne wesentliche Bereicherung des Materials über Skizzen und Möglichkeiten nicht hinauszugelangen ist. Sodann hat A. Harnack in einer Reihe von lichtvollen Untersuchungen über den ursprünglichen Text an einzelnen bedeutsamen Stellen der Evv und Ac (Sitzungsber. der Kgl. preuss. Akademie der Wissenschaften, 1899/1900) ebenfalls ein doppeltes erprobt, erstens dass ohne Einblick in die Textgeschichte die Verwertung der Codd eine ganz unsichere bleibt, zweitens dass das Suchen nach dem Urtexte nur bei ausgiebiger Heranziehung der Väterzeugnisse Aussicht auf Erfolg bietet.
[Page 14 -- Das neue Unternehmen. ]
##3. Formulierung der Aufgabe.
3. Formulierung der Aufgabe. Aus diesem Verlauf der bisherigen wissenschaftlichen Arbeit ergiebt sich ganz deutlich die Aufgabe, die uns gestellt ist. Sie bedarf nur der Formulierung, nicht der Begründung. 1. Es gilt, die Geschichte des neut. Textes zu erforschen und dazu womöglich das gesamte vorhandene handschriftliche Material zu verwerten, die Minukeln so gut wie die Majuskeln. 2. Soll daraus ein Geschichtsbild werden und nicht ein Aktenregister, so darf nicht mit einzelnen Codices, die immer Zufallsgrössen sind, sondern nur mit Text-Typen operiert werden. Solche zu finden, ist die nächste Aufgabe. Dabei ist das NT nicht als Einheit vorauszusetzen, sondern die Möglichkeit offen zu halten, dass jeder Teil seine besonderen Geschicke hatte. Diese Aufgabe ist zu verfolgen, bis sie sich etwa wirklich als völlig aussichtslos ergiebt, so dass die Hypothese der Existenz von Typen als durch den Befund widerlegt zu gelten hat. 3. Diese Typen sind ins Einzelne zu rekonstruieren, soweit es irgend möglich ist, und genau zu charakterisieren. Daraus wird sich auch für jeden derselben ergeben, ob er gewachsen oder Werk einer Rezension ist. 4. Weiter ist zu versuchen, den Geltungsbereich, womöglich den zeitlichen und örtlichen Ursprung dieser Typen festzustellen unter Zuhilfenahme der Väterschriften, insbesondere der Kommentare, die von den blossen Textcodices ganz auszuscheiden sind, und der Versionen, soweit diese selbst textkritisch sicher stehen. 5. Die Typen sind sodann gegeneinander auszuspielen und abzuwägen, und zwar erst als Ganzes, sodann in den einzelnen Varianten. Dazu sind stets die ältesten Versionen und alle irgend erreichbaren Zeugnisse des s. II, II und IV als völlig gleichwertig herbeizuziehen. Soweit es die Natur der Varianten gestattet, sind diese vergleichenden Untersuchungen nicht isoliert in der Verfolgung von Satz für Satz vorzunehmen; sondern die Varianten derselben Gattung sind gemeinsam zu behandeln.
Die Grösse dieser Aufgabe durfte, nachdem sie im Verlauf der textkritischen Arbeit immer deutlicher ihre Umrisse gezeigt hatte, nicht von ihrer Inangriffnahme abschrecken. War doch auch die Zeit dafür reif geworden. Fürs erste war durch die Sammlertreue von Scrivener und Gregory ein ungefährer Überblick über das vorhandene Material geschafft, wenn dies auch sich als bedeutend reichhaltiger herausstellte, als die Kataloge der beiden Forscher es erwarten liessen.¹) Sodann war der Bestand der meisten orientalischen
[Footnotes]
¹) Siehe den Einzelnachweis später in der nach Bibliotheken geordneten Liste.
[Page 15 -- 3. Formulierung der Aufgabe. Die Möglichkeit u. das Interesse ihrer Lösung. ]
Bibliotheken im Lauf der letzten Jahrzehnte genau katalogisiert worden, sodass man ohne mühselige Vorarbeiten zu den Codices gelangen konnte. Ferner verhiessen die Sicherheit und relative Bequemlichkeit des Verkehrs, die Festigung internationaler Ordnungen, insbesondere auch die guten politischen Beziehungen des deutschen Reiches mit der Türkei, die Zuverlässigkeit der Weltpost — von den ungezählten Postsendungen, Telegrammen, Karten, Briefen, Packeten, die während der sechsjährigen Arbeit durch Europa und die türkischen Länder hin und her wanderten, ist. nicht eine einzige verloren gegangen — gegenüber den Zeiten Tischendorf’s.eine gewaltige Erleichterung der Arbeit. Die grosse Zahl vorhandener Minuskel-Kollationen, die wir namentlich Scrivener und neben ihm Tregelles, Ferrar, Abbot, Hoskier, Rendel Harris u. a. verdanken, in Verbindung mit der vorzüglichen Herausgabe der meisten Majuskeln durch Facsimiledruck oder sonstwie, wofür Tischendorf das Hauptverdienst zukommt¹), endlich der ausführliche Apparat in Tischendorfs Editio octava critica major ermöglichte einen provisorischen Aufriss der Textentwicklung, der die Sichtung der Minuskeln vereinfachte. Aber auch die Erhellung der byzantinischen Litteraturgeschichte, die vor allem dem unermüdlichen Eifer Krumbacher’s zu danken ist, und die eingehenden Studien, die die Philologen immer mehr der Geschichte der sogenannten κοινή und dem Übergang von ihr zum Neugriechisch widmeten, versprachen Lichter auf den Weg zu werfen. Während dies alles Mut zu machen geeignet war, musste bei der so gestellten Aufgabe nicht minder die Aussicht locken, endlich einen klareren Einblick in Spezialgebiete der Kirchengeschichte zu gewinnen, die bis jetzt ziemlich im Dunkel lagen. Für das Mittelalter war es die Stellung, die das NT und seine einzelnen Teile in den verschiedenen Epochen: einnahmen, insbesondere die Verbreitung des griechischen Neuen Testaments über die griechisch redende Christenheit hinaus, das Mass seines Gebrauchs innerhalb der letzteren über den kirchlich-liturgischen Bedarf hinaus, ferner das Mass von genauerem Interesse für die einzelnen neut. Schriften, von gelehrter Arbeit, die jeder derselben zugewandt wurde, von Sinn für den Wortlaut ihres Textes. Für die alte Zeit kam noch hinzu die Einsicht in den Betrieb der Textkritik, die ja urkundlich in irgend welchem Masse mindestens seit Origenes geübt worden ist, und die Klarlegung, in wie weit die für kanonisch erklärten Bücher als eine Einheit empfunden
[Footnotes]
²) Siehe den Einzelnachweis in den verschiedenen späteren Listen.
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wurden. Nur schüchtern wage ich zu hoffen, dass da und dort auch die griechische Philologie, der wir Theologen, auch die theologischen Textkritiker mannigfach verpflichtet sind, für ihre κοινή-Forschung, vielleicht auch die griechische Paläographie für ihre Interessen einen kleinen Gewinn einheimsen könne, wenn es auch bei dem Umfang des Forschungsgebietes begreiflich erscheinen wird, dass rein philologische und paläographische Dinge nur soweit Beachtung finden konnten, als sie für die Lösung der theologischen Aufgabe, den neut. Text zum Zweck der Wiedergewinnung des Urtextes in seinen Wandlungen zu verfolgen, etwas abzuwerfen versprachen. Aber über dies alles ragt hinaus das Hauptinteresse, das nach den gemachten Erfahrungen ohne Erforschung der Text-geschichte zu befriedigen ein für alle mal ausgeschlossen war, die Gewinnung eines dem Urtext so nah als irgend möglich kommenden Textes unseres Neuen Testaments. Unter allen Forderungen, welche die Kirche an die Theologie zu stellen berechtigt ist, ist diese Aufgabe der ersten eine, zumal auf protestantischem Gebiet. Und sie wird um so dringender, je ernster die Kirche sich dazu verpflichtet fühlt, in den Übersetzungen in die Sprachen der Gegenwart der Ge-meinde eine möglichst genaue Wiedergabe des Urtextes, das heisst in diesem Fall des griechischen Originals, zu bieten. Was hilft dies Streben, wenn die Urform dieses „Urtextes“ eine mehr oder weniger problematische Grösse ist? Aber auch die theologischen Forschungen im Gebiet des Neuen Testaments sind auf Schritt und Tritt durch die textkritischen Unsicherheiten gehemmt. Je mehr wir in die Feinheiten des paulinischen Gedankengefüges und sprachlichen Ausdrucks eindringen wollen, desto bedeutsamer werden auch die für den Gesamteindruck unwesentlichen Varianten des überlieferten Textes, dort einer Partikel und hier eines Modus. Je schärfer wir die schriftstellerischen Umrisse der drei Synoptiker erkennen, desto störender 'sind die Unsicherheiten ihres Textes, die immer wieder die feineren Schattierungen verwischen. Und vollends eine neut. Grammatik, soweit diesem Begriff noch ein Recht zugestanden werden kann, bleibt, wie die überaus fleissigen und sauberen Arbeiten von Schmiedel und Blass illustrieren, in vielen Punkten eine Grammatik der einzelnen Codd, solange die Textkritik nicht über die Stagnation hinauskommt, in der sie angelangt ist.
So galt es also, nachdem auch die letzte Schwierigkeit, die Beschaffung der Mittel, durch eine mindestens auf solchen scheinbar abgelegenen Wissenschaftsgebieten seltene Grossherzigkeit gehoben
[Page 17 -- Das Interesse der Aufgabe. 4. Methode der Arbeit. ]
und die Zuhilfenahme von Mitarbeitern nach Bedarf ermöglicht worden, die Aufgabe, für welche die Zeit erfüllt war, anzufassen.
##4. Methode der Kollationsarbeit.
4. Methode der Kollationsarbeit. Es ist nun zunächst zu berichten, in welcher Weise die Arbeit in Angriff genommen wurde. Begonnen habe ich, als mit dem durchsichtigeren Teil, mit dem Apostolos, um, falls das Ergebnis die Arbeit nicht lohnte, mit ihm mich zu begnügen. Nach langen immer neuen Gruppierungen der irgend bis dahin gebuchten Varianten gelang es, neben dem durch אB[AC] repräsentierten Typ, den ich vorläufig I benannte, nicht nur in allem Wesentlichen auch den sogenannten byzantinischen oder (W.-H.) syrischen Typ, von mir als „III“ bezeichnet, ins einzelne festzustellen; sondern deutlich traten daneben noch andere Typen in ihren Umrissen hervor. Bei den Acten fiel es zunächst auf, in welchem Masse der Laudianus („E“) mit dem Texte des Andreaskommentars in den Min. „15“ „18“ „36“ übereinstimmte, sodann, dass nicht selten mit ihm, noch viel mehr unter einander eine Reihe Min.-Texte verwandt waren, die meist den sog. Euthaliusapparat aufwiesen und sich in Kath häufig mit Maj.-Codex „P“ berührten, sodass also Euthalius den in ihnen vertretenen Texttyp benutzt haben muss. Auf der andern Seite stand der durch den Cantabrigiensis („D“) bezeugte Text, der sich auch seinerseits nicht selten mit dem des Andreaskommentars berührte. Ähnlich war es bei Paulus. Neben jenen beiden Texttypen „I“ und „II“ hob sich der Text der ältesten Kommentatoren, Chrysostomus und Theodoret, der des Euthalius mit „H“ „P“ und der des meist von „F“ „G“ begleiteten Claromontanus („D“) ab. In AK und PI trat die „Königin der Minuskeln“ „13“ häufig auf die Seite des Euthalius. Auch in Apokalypse ergab sich ein dreifacher Typ, neben’ dem von א[AC] der von „P“, mit dem die Min. „1“ „17“ gingen, und der von „Q“ (al. B) mit „ı2ı“ „140“ Nach diesen. Typen wurden nun für die Kollationsarbeit linksseitig in einer breiten Kolumne die Texte vorgedruckt, so zwar, dass der Text I in fortlaufender Linie gesetzt, die anderen Textformen, soweit sie sich erkennen liessen, interlinear eingestellt wurden. Da sich diese Typen bei der Kollation im wesentlichen bewährten und an vielen, bei dem ersten eng begrenzten Material zweifelhaft gebliebenen Stellen bald eine sichere Entscheidung sich ergab, auch der einzelne Typ als textliches Charakterbild mit immer schärfer werdenden Zügen heraustrat, so wurden nach derselben Methode die Evv in Angriff genommen. Auch hier füllte auf der linken Seite der Text von אB die fortlaufenden Linien, die Ab-
v. Soden, Die Schriften des Neuen Testaments. 1. -- 2
[Page 18 -- Das neue Unternehmen. ]
weichungen des „byzantinischen“ von ihm erschienen interlinear als III, während daneben als II der Western-Text eingestellt war, kombiniert aus dem Cantabrigiensis, den Itala und dem syrischen Sinaiticus. Dazu bot sich als ein Zwischentyp zwischen I und III der in den bisher als K, Π bezeichneten Majuskeln vertretene Text, und als Zwischentyp zwischen I, II und III der der sogenannten Ferrargruppe Auch deren Varianten wurden in den Kollationsheften markiert, sobald diese beiden Typen sich von jenen 3 Grundtypen sicher abhoben. Bald tauchten, noch erst ganz schwach, die Umrisse von einigen anderen auf, um immer deutlicher sich zu erkennen zu geben. Zu diesen anonymen Typen traten dann noch die Textformen der Kommentarwerke, die auseinander zu schälen eine ganz besonders mühselige Arbeit war.
Die Kollationsaufgabe wurde nun grundsätzlich so gestellt, dass Codd, die durch Verbotenuskollation einiger Stichkapitel sich als Vertreter von III erwiesen, nur an den Stellen, an welchen die Lesart von III noch schwankte, und so lange, bis eine sichere Majorität erzielt war, nachgesehen wurden. Ebenso wurde später gegenüber den andern Typen verfahren, sobald ihr Text in der Hauptsache feststand. Dass hier die Instruktionen im einzelnen immer wieder sich ändern mussten, wenn unnütze Kollationsarbeit vermieden werden sollte, ist selbstverständlich. Dass dabei des Guten hie und da zu viel, hie und da zu wenig gethan wurde, war ebenfalls unvermeidlich. Da die Vorlagen für die Kollationsarbeit nachkorrigiert werden mussten, sollten sie den Mitarbeitern einen sicheren Massstab für die Taxierung der neu vorzunehmenden Codd bieten, und sollte aus den neuen Eintragungen der Lesarten die Eigenart jedes Codex leicht ersichtlich werden, so kann bei der Zusammenarbeitung der Varianten aus den verschiedenen Heften zuweilen ein Fehler in Bezug auf die Lesart eines einzelnen Cod sich eingeschlichen haben. Doch ist alles mehrfach nachkontrolliert. Alle Codd, die einen irgendwie interessanten oder seltenen Text boten, wurden verbotenus kollationiert, also selbstverständlich Vertreter des Typ I, des Ferrar-, des Western-Textes und der sonstigen diesen verwandten Formen. Für die Unzialcodices konnte häufig das Facsimile oder die Originalausgabe benützt werden. Wo solches nicht vorhanden war, wurde die Handschrift meist aufs neue kollationiert. Es soll seinerzeit bei jedem Codex bemerkt werden, in welchem Umfang er zur Kollation herangezogen worden ist. Selbstverständlich ist von jedem Codex eine genaue Beschreibung nach einem vorgedruckten Schema aufgenommen worden,
[Page 19 -- 4. Methode der Arbeit. 5. Was ausgeschlossen blieb. ]
sodass alle bei Gregory und Scrivener sich findenden Angaben nunmehr ihre Kontrolle, häufig ihre Korrektur erfahren haben.
##5. Was ausgeschlossen blieb.
5. Was ausgeschlossen blieb. Von dem Sprach-oder Schreibformalen ist ausser Betracht gestellt worden, was für die Hauptaufgabe belanglos war, ob es auch für die Geschichte der Schreibkunst oder, zuweilen, der Exegese von Interesse sein mochte. Dahin gehören Interpunktionen, Apostrophe, Zitatzeichen, Spiritus und Accente, die Bezeichnung von Zahlen mit Zahlbuchstaben, das " über ι und ν, das ı subscriptum resp. adscriptum, das ν ephelkystikon, endlich in den Minuskeln die sogenannten Itacismen überall da, wo die im Mittelalter als korrekt geltende Schreibweise feststand und die Vokalvertauschung nicht eine andere Bedeutung der Wortform in sich schliessen konnte. Ebenso wurde zwar stets notiert, wenn in einem Codex die Lektionen markiert waren, weil daraus ein Urteil darüber zu gewinnen ist, welchen Zwecken die Codd gedient haben. Aber der Umfang der einzelnen Lektionen wurde nicht jedesmal festgestellt. Denn die Geschichte der Lektioneneinteilung und der Sitte, die neut. Schriften in Lektionen zu lesen, ist eine Aufgabe, die eine selbständige Bearbeitung erfordert und ausserhalb der hier gestellten lag. Für unsern Zweck genügte es zu wissen, wo immer zu Zeiten Lektionen begannen, um die durch den Lektionsanfang etwa veranlassten Textänderungen als solche zu erkennen. Diese letzteren wurden grundsätzlich aus den für den Text selbst in Frage kommenden Varianten ausgeschieden. Eine summarische Erwähnung sollen sie bei der Übersicht über den verschiedenen Charakter der Varianten erhalten. Ebenso wurde zwar notiert, wie es denn in der Liste IV jedesmal vermerkt ist, wenn sich in einem Codex Vortrags- oder musikalische Zeichen am Rande fanden, sowie, wenn er durch Ornamente oder durch Bilder geschmückt war. Aber auch die beiden Gebiete der Vortrags- und der Ilustrationskunst mussten der Spezialforschung überlassen bleiben.
Auf die Lektionarien ist nach langem Schwanken verzichtet worden. Erstlich schien das Material der Volltexte doch reichlich genug. Sodann war zu besorgen, dass die Textgeschichte der Lektionarien unter Umständen ihre eigenen Wege ging, und so ihre Herbeiziehung ebenso leicht das Bild verwirren als aufhellen könnte. Andererseits schien es leichter, wenn erst die Wandlungen des Schrifttextes klar waren, von hier aus auch die Geschichte der Lesetexte zu entwirren. Freilich war nicht zu verkennen, dass von ihnen aus auch ein Einfluss auf die Abschriften des Gesamttextes
2*
[Page 20 -- Das neue Unternehmen. ]
sich geltend gemacht haben konnte, sodass für diese oder jene Etappe von dem Lektionartext aus auf ihren Ursprung Licht fallen dürfte. Für diesen Zweck aber, zumal er für die Hauptsache nicht ins Gewicht fiel, konnten die vorhandenen Kollationen von Lektionarien zur Not ausreichen.
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#Erste Abteilung. Die Textzeugen.
Erste Abteilung.
Die Textzeugen.
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##Übersicht über das vorhandene Zeugenmaterial.
###1. Verzeichnis der in den Listen von Scrivener und Gregory (Textkritik des NT) erscheinenden Codd oder Nummern, die hier gestrichen sind.
####6. Vorbermerkung.
6. Vorbermerkung. Den Grundstock der grossen, den bis dahin bekannt gewordenen Bestand an neut. Texten registrierenden Listen, die wir Scrivener und Gregory verdanken, welch letzterer die der Prolegomena in seiner Textkritik noch bedeutend vermehrt hat, bildet das Register Wettsteins. Dieser hat die von den Texteditoren und Textkritikern vor ihm herangezogenen Codd, soweit er davon Kenntnis hatte, mit aufgenommen. Dennoch ist es noch nicht gelungen, bei allen vor Wettstein erwähnten oder verwerteten Handschriften sicher nachzuweisen, ob sie mit einer der in unseren Listen figurierenden identisch sind. Was darüber festzustellen ist, das findet sich in der später folgenden Identifikationstabelle (Liste II). Zur Illustration des allmählichen Anwachsens dieser Listen diene die Geschichte der Liste der Evv-Codd in Minuskelschrift. Wettsteins Liste umfasste die Nummern 1—112. Leider wurde von den späteren Arbeitern die Numerierung Wettsteins nicht durchweg festgehalten; vielmehr sind manche seiner Zahlen, deren Träger seinen Nachfolgern der Aufnahme nicht wert erschienen, von diesen für neue Codd verbraucht worden. Griesbach fügte 113—121 hinzu. Durch Dermonts Kollation (Collect. crit. in NT I. Leiden 1325) trat 122, durch Treschow (Tentamen descriptionis codicum veterum aliquot Graecorum Novi Foederis manuscriptorum. Kopenhagen 1773) 123— 125, durch Heusinger (Progr. de IV evv. cod. Graeco. Wolfenbüttel 1752) und Knittel (Neue Kritik über 1 Jo 5, 7. Braunschweig 1785) 126 hinzu. Eine bedeutsame Vermehrung, die Nummern 127— 217, verdankt die Liste sodann Birch (Kritisk Bescrivelse over graeske Haandskrifter af det Nye Testamente. Kopenhagen 1785. Die Kollationen erschienen, soweit sie aus einem das Meiste ver-
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